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Friedrich Engels – Kann Europa abrüsten

Erstellt am 24.11.2004 von Andreas Hermann Landl
Dieser Artikel wurde mal gelesen und am 19.10.2008 zuletzt geändert.

Geschrieben und erstmalig veröffentlicht als Artikelserie im „Vorwärts“
1893. Erschien außerdem als Separatabdruck aus dem „Vorwärts“, Nürnberg
1893.

Nach dem Separatabdruck.


Vorwort

|371| Die hier wiederabgedruckten
Artikel wurden veröffentlicht im Berliner „Vorwärts“, März 1893,
während der Reichstagsdebatte über die Militärvorlage.

Ich gehe darin von der Voraussetzung aus, die sich mehr und mehr
allgemeine Anerkennung erobert: daß das System der stehenden Heere in
ganz Europa auf die Spitze getrieben ist in einem Grad, wo es entweder
die Völker durch die Militärlast ökonomisch ruinieren oder in einen
allgemeinen Vernichtungskrieg ausarten muß, es sei denn, die stehenden
Heere werden rechtzeitig umgewandelt in eine auf allgemeiner
Volksbewaffnung beruhenden Miliz
.

Ich versuche, den Beweis zu führen, daß diese Umwandlung schon jetzt
möglich ist, auch für die heutigen Regierungen und unter der heutigen
politischen Lage. Ich gehe also von dieser Lage aus und schlage
einstweilen nur solche Mittel vor, die jede heutige Regierung ohne
Gefahr der Landessicherheit annehmen kann
. Ich suche nur festzustellen,
daß vom rein militärischen Standpunkt der allmählichen Abschaffung der
stehenden Heere absolut nichts im Wege steht
; und daß, wenn trotzdem
diese Heere aufrechterhalten werden, dies nicht aus militärischen,
sondern aus politischen Gründen geschieht, daß also mit einem Wort die
Armeen schützen sollen nicht so sehr gegen den äußern wie gegen den
innern Feind.

Die allmähliche Herabsetzung der Dienstzeit durch internationalen
Vertrag
, die den Kernpunkt meiner Darstellung bildet, halte ich dagegen
überhaupt für den einfachsten und kürzesten Weg, um den allgemeinen
Übergang vom stehenden Heer zu der als Miliz organisierten
Volksbewaffnung
zu vermitteln. Die Modalitäten eines solchen Vertrags
würden natürlich verschieden sein, je nach dem Charakter der
vertragschließenden Regierungen und nach der jedesmaligen politischen
Lage. Und günstiger als jetzt können die Dinge unmöglich liegen; kann
man also heute schon |372| eine höchstens
zweijährige Dienstzeit
zum Ausgangspunkt nehmen, so wird in einigen
Jahren vielleicht schon ein bedeutend geringerer Zeitraum zu wählen
sein.

Indem ich die gymnastische und militärische Ausbildung der gesamten
männlichen Jugend
zu einer wesentlichen Bedingung des Übergangs zum
neuen System mache, schließe ich die Verwechslung des hier
vorgeschlagenen Milizsystems mit irgendwelcher jetzt bestehenden Miliz,
z.B. der schweizerischen, ausdrücklich aus.

London, 28. März 1893
F. Engels



I

|373| Seit fünfundzwanzig Jahren
rüstet ganz Europa in bisher unerhörtem Maß. Jeder Großstaat sucht dem
andern den Rang abzugewinnen in Kriegsmacht und Kriegsbereitschaft.
Deutschland, Frankreich, Rußland erschöpfen sich in Anstrengungen, eins
das andre zu überbieten. Gerade in diesem Augenblick mutet die deutsche
Regierung dem Volk eine neue, so gewaltsame Kraftanspannung zu, daß
selbst der gegenwärtige sanfte Reichstag davor zurückbebt. Ist es da
nicht Torheit, von Abrüstung zu reden?

Und doch rufen in allen Ländern die Volksklassen, die fast
ausschließlich die Masse der Soldaten zu stellen und die Masse der
Steuern zu zahlen haben
, nach Abrüstung. Und doch hat überall die
Anstrengung den Grad erreicht, wo die Kräfte – hier die Rekruten, dort
die Gelder, am dritten Ort beide – zu versagen beginnen. Gibt es denn
keinen Ausweg aus dieser Sackgasse außer durch einen Verwüstungskrieg,
wie die Welt noch keinen gesehn hat?

Ich behaupte: Die Abrüstung und damit die Garantie des Friedens ist
möglich
, sie ist sogar verhältnismäßig leicht durchführbar, und
Deutschland, mehr als ein andrer zivilisierter Staat, hat zu ihrer
Durchführung die Macht wie den Beruf
.

Nach dem Kriege von 1870/71 war die Überlegenheit des Systems der
allgemeinen Dienstpflicht mit Reserve und Landwehr
– selbst in seiner
damaligen verkümmerten preußischen Gestalt – über das System der
Konskription mit Stellvertretung
endgültig dargetan. Alle kontinentalen
Länder nahmen es, mehr oder weniger modifiziert, an. Das wäre an sich
kein großer Schaden gewesen. Die Armee, die ihren Hauptrückhalt in den
verheirateten Männern mittleren Alters hat
, ist von Natur weniger
offensiv, als die stark mit Einstehern – geworbenen Berufssoldaten –
durchsetzte Konskriptionsarmee Louis-Napoleons
war. Nun kam aber dazu
die |374| Annexion von Elsaß-Lothringen, die
den Frankfurter Frieden für Frankreich ebensosehr zu einem bloßen
Waffenstillstand machte, wie der Tilsiter Friede dies für Preußen
gewesen war. Und nun begann das fieberhafte Wettrüsten zwischen
Frankreich und Deutschland, in welches allmählich auch Rußland,
Österreich, Italien hineingezogen wurden.

Man begann damit, die Landwehrverpflichtung zu verlängern. In
Frankreich erhielt die Territorialarmee eine Reserve von älteren
Leuten, in Deutschland
wurde das zweite Aufgebot der Landwehr und
selbst der Landsturm wiederhergestellt. Und so ging’s weiter, Schritt
um Schritt, bis die von der Natur gesetzte Altersgrenze erreicht oder
gar überschritten war.

Dann wurde die Rekrutenaushebung verstärkt und die dadurch nötig
gewordnen neuen Ausbildungscadres errichtet; aber auch hier ist die
Grenze fast oder ganz erreicht, in Frankreich sogar schon
überschritten. Die letzten Aushebungsjahrgänge der französischen Armee
schließen bereits eine ziemliche Anzahl junger Leute ein, die noch
nicht oder überhaupt nicht den Strapazen des Dienstes gewachsen sind.
Die englischen, hierin unparteiischen Offiziere, die den großen
Manövern in der Champagne 1891 beiwohnten und die hohe Tüchtigkeit der
heutigen französischen Armee vollauf und stellenweise bewundernd
anerkannten, berichten einstimmig, daß eine unverhältnismäßig große
Zahl junger Soldaten auf den Märschen und in den Gefechtsübungen
liegenblieb. Und in Deutschland haben wir zwar unsre Reservebestände
dienstfähiger Mannschaft noch nicht ganz erschöpft, aber dem abzuhelfen
ist ja gerade die neue Militärvorlage da. Kurz, auch in dieser
Beziehung stehn wir vor der Grenze der Leistungsfähigkeit.

Nun besteht gerade die moderne, die revolutionäre Seite des
preußischen Wehrsystems
in der Forderung, die Kraft jedes wehrfähigen
Mannes für die ganze Dauer seines wehrfähigen Alters in den Dienst der
nationalen Verteidigung zu stellen.
Und das einzig Revolutionäre, das
in der ganzen militärischen Entwicklung seit 1870 zu entdecken ist,
liegt eben darin, daß man – oft genug wider Willen – sich genötigt
gesehn hat, diese bisher nur in der chauvinistischen Phantasie erfüllte
Forderung mehr und mehr wirklich durchzuführen. Weder an der Länge der
Dienstverpflichtung, noch an der Einstellung aller wehrfähigen jungen
Leute kann heute noch gerüttelt werden, am wenigsten von Deutschland,
am allerwenigsten von der Sozialdemokratischen Partei, die im Gegenteil
auch diese Forderung vollauf in die Praxis zu übersetzen in Deutschland
allein imstande ist.

Es bleibt hiernach nur noch ein Punkt, wo das Bedürfnis nach
Abrüstung den Hebel ansetzen kann
: die Länge der Dienstzeit bei der
Fahne. Und |375| hier liegt in der Tat der Punkt des Archimedes:

Internationale Festsetzung, zwischen den Großmächten des Kontinents, des Maximums der aktiven Dienstzeit bei der Fahne
für alle Waffengattungen, meinetwegen zuerst auf zwei Jahre, aber mit
dem Vorbehalt sofortiger weiterer Herabsetzung, sobald man sich von der
Möglichkeit überzeugt, und mit dem Milizsystem als Endziel.

Und
ich behaupte, daß gerade Deutschland vor allen berufen ist, diesen
Antrag zu stellen, und daß Deutschland vor allen Vorteil daraus ziehn
wird, daß es ihn stellt, selbst wenn er nicht angenommen wird.

II

|376| Die internationale
Feststellung der Maximaldienstzeit
bei der Fahne würde die Armeen aller
Mächte
gleichmäßig treffen. Es wird allgemein angenommen, daß bei
Armeen, deren Mannschaft noch kein Pulver gerochen, für die erste Zeit
eines Feldzugs die Länge der aktiven Dienstzeit – innerhalb gewisser
Grenzen – den besten Maßstab abgibt für ihre Verwendbarkeit in allen
Kriegslagen, namentlich für den strategischen wie taktischen Angriff.
Unsere Krieger von 1870 haben die furia francese |französische Wut| des
Bajonettangrifis der langgedienten kaiserlichen Infanterie und die
Wucht der Kavallerie-Attacken von Wörth und Sedan hinreichend
kennengelernt; sie haben aber auch bei Spichern, gleich im Beginn des
Kriegs, bewiesen, daß sie – selbst in der Minderzahl – dieselbe
Infanterie
aus einer starken Stellung werfen konnten. Also im
allgemeinen zugegeben: Innerhalb gewisser, je nach dem
Nationalcharakter verschiedner Grenzen
entscheidet bei nicht
kriegsgewohnten Truppen
die Länge der Dienstzeit bei der Fahne über die
allgemeine Kriegsverwendbarkeit und namentlich über die Tüchtigkeit zur
Offensive
.

Gelingt es, eine Maximalgrenze dieser Dienstzeit international
festzusetzen, so bleibt das relative Tüchtigkeitsverhältnis der
verschiednen Armeen so ziemlich, was es heute ist. Was die eine an
unmittelbarer Verwendbarkeit einbüßt, das büßen die andern auch ein.
Soweit heute die Überrumpelung eines Staats durch den andern
ausgeschlossen ist, soweit bleibt sie es auch dann. Der Unterschied der
aktiven Dienstzeit z.B. in Frankreich und Deutschland ist bis jetzt
nicht derart gewesen, daß er ins Gewicht fällt; auch unter der
verkürzten Dienstzeit würde, ganz wie heute, alles darauf ankommen, wie
in jeder der beiden Armeen die vereinbarte Dienstzeit benutzt wird. Im
übrigen würde die relative Stärke der beiden |377|
Armeen ganz dem Verhältnis der Bevölkerung beider Länder entsprechen,
und nachdem die allgemeine Wehrpflicht einmal wirklich durchgeführt
ist, wird bei Ländern annähernd gleicher ökonomischer Entwickelung
(worauf der Prozentsatz der Untauglichen beruht) die Bevölkerungszahl
immer den Maßstab der Heeresstärke abgeben. Da gibt es keine
Kunststücke mehr wie die preußischen von 1813; der Rahm ist abgeschöpft.

Aber sehr viel hängt eben davon ab, wie die festgesetzte Dienstzeit
ausgenutzt wird. Und da gibt es fast in allen Armeen Leute, die etwas
erzählen könnten, wenn sie – dürften, denn die liebe Geldnot hat
überall dazu gezwungen, einen Teil der Rekruten nur „notdürftig“, in
ein paar Monaten, auszubilden. Da muß man sich auf das Wesentliche
beschränken, da fliegt ein ganzer Haufen traditioneller Firlefanz in
die Ecke, und da findet man, zu seiner eignen Überraschung, wie wenig
Zeit dazu gehört, aus einem passabel gewachsenen jungen Mann einen
Soldaten zu machen. Wie das bei der deutschen Ersatzreserve die
einübenden Offiziere in Erstaunen versetzt, hat Bebel im Reichstag
erzählt. In der österreichischen Armee gibt es Offiziere die Menge, die
da behaupten, die Landwehr, die mit der deutschen Ersatzreserve
ungefähr gleiche Dienstzeit hat, sei besser als die Linie. Kein Wunder.
Hier fehlt die Zeit, die bei der Linie mit den herkömmlichen und
deswegen geheiligten Narrheiten vertrödelt wird, und eben deswegen wird
sie nicht vertrödelt.

Das deutsche Exerzierreglement für die Infanterie von 1888
beschränkt die taktischen Formationen für das Gefecht auf das
Notwendige. Neues enthält es nicht; die Gefechtsfähigkeit in allen
Inversionsstellungen
hatten schon die Österreicher nach 1859, die
Bildung aller Bataillonskolonnen durch einfachen Zusammenschluß der
vier Kompaniekolonnen hatten die Darmhessen um ebendieselbe Zeit
eingeführt und mußten sich diese rationelle Formation nach 1866 von den
Preußen wieder verbieten lassen. Im übrigen beseitigt das neue
Reglement einen massenhaften Wust altfränkischer, ebenso nutzloser wie
geheiligter Zeremonien; gerade ich habe absolut keinen Anlaß, daran zu
kritteln. Ich hatte mir nämlich nach dem Krieg von 1870 den Luxus
gestattet, ein Schema der der heutigen Kriegsführung angemessenen
geschlossenen Formationen und Bewegungen der Kompanie und des
Bataillons zu entwerfen, und war nicht wenig verwundert, dies Stück
Zukunftsstaat“ in den betreffenden Abschnitten des neuen Reglements
fast in allen Zügen verwirklicht zu finden.

Aber das Reglement ist eins, und die Ausführung ist ein andres. Das
Kamaschenrittertum, das in allen Friedensepochen in der preußischen
Armee floriert hat, bringt die in der Vorschrift abgeschaffte
Zeitvergeudung |378| wieder herein durch die
Hintertür der Parade. Da ist auf einmal der Paradedrill absolut
notwendig als Gegengewicht gegen die Unbändigkeit der zerstreuten
Gefechtsordnung, als einziges Mittel zur Schaffung wahrer Disziplin
usw. usw. Das heißt nichts andres, als daß Ordnung und Disziplin nur
dadurch herzustellen sind, daß man die Leute gänzlich nutzlose Dinge
üben läßt. Allein die Abschaffung des „Stechschrittes“ würde ganze
Wochen für rationelle Übungen freisetzen, abgesehn davon, daß dann die
fremden Offiziere eine deutsche Revue ansehn könnten, ohne sich das
Lachen zu verbeißen.

Eine ähnliche veraltete Institution ist der Wachdienst, der auch
nach althergebrachter Vorstellung dazu dient, die Intelligenz und
besonders das Selbstdenken der Leute zu entwickeln, indem man ihnen die
Kunst beibringt – falls sie sie nicht schon verstehn -, zwei Stunden
lang auf Posten an gar nichts zu denken. Bei der heutigen allgemeinen
Sitte, den Vorpostendienst im Terrain zu üben, hat das Postenstehn in
der Stadt, wo es doch Sicherheitspolizei aller Art gibt, allen Sinn
verloren. Man schaffe es ab, man wird mindestens zwanzig Prozent freie
Dienstzeit fürs Militär und Sicherheit auf den Straßen fürs Zivil
gewinnen.

Dann gibt’s überall eine Menge Soldaten, die unter allerlei
Vorwänden möglichst wenig Dienst tun: Kompaniehandwerker,
Offiziersburschen usw. Da läßt sich auch manches ändern.

Ja – aber wie ist’s mit der Reiterei? Die muß doch längere
Dienstzeit haben? – Wünschenswert ist’s gewiß, wenn man mit Rekruten zu
tun hat, die weder reiten noch Pferde warten können. Aber da läßt sich
auch manches tun. Wenn die Pferderationen weniger kärglich bemessen
wären – die Pferde müssen ja zum Manöver erst aufgefüttert werden, um
auf das Normalmaß von Kräften zu kommen! – und wenn bei jeder Schwadron
eine Anzahl überzähliger Pferde vorhanden wären, so daß die Leute mehr
und länger im Sattel üben könnten, kurz, wenn man einmal ernstlich
daran ginge, die verkürzte Dienstzeit durch intensiveres Betreiben der
wesentlichen und durch Beseitigung der überflüssigen Dinge aufzuwiegen,
dann würde man bald finden, daß es auch so geht. Auch für das
Remontereiten, auf das man sich jetzt so sehr stützt und dessen
unbedingte Notwendigkeit ich gern zugebe, werden sich Mittel und Wege
finden lassen. Und übrigens steht ja nichts im Wege, für so lange man
es nötig hält, das System drei- oder vierjähnger Freiwilliger oder auch
Kapitulanten für Reitertruppen beizubehalten und auszudehnen – gegen
entsprechende Kompensationen in der Reserve- und Landwehrpflicht, ohne
die man dergleichen nicht bekommt.

|379| Wenn man auf die
militärischen Autoritäten hört, da ist das freilich anders. Da geht das
alles absolut nicht, da darf an nichts gerüttelt werden, ohne daß alles
zusammenbricht. Ich habe aber jetzt schon seit fünfzig Jahren so viel
militärische Institutionen heute als unantastbar und geheiligt
ausposaunen und morgen rücksichtslos in die Rumpelkammer werfen sehn,
und zwar von genau denselben Autoritäten; ich habe ferner so oft
gesehn, daß, was in der einen Armee über das Bohnenlied verhimmelt, in
der andern unter der Kanone befunden wurde; ich habe so oft erlebt, daß
die altbewährtesten und höchstgepriesenen Gewohnheiten und
Einrichtungen vor dem Feind sich als Torheit erwiesen; ich habe endlich
so oft erfahren, daß in jeder Armee eine besondere konventionelle
Tradition besteht, die, für die unteren Chargen, den gemeinen Mann und
das Publikum bestimmt, von den höheren Vorgesetzten gepflegt, von den
selbstdenkenden Offizieren aber belächelt und von jedem Feldzug in
Nichts aufgelöst wird – kurz, ich habe da so viel geschichtliche
Erfahrungen gemacht, daß ich jedem rate, gegen nichts mißtrauischer zu
sein als gegen militärisches „Fachurteil“.

III

Es ist ein sonderbarer Kontrast: Unsere höheren Militärs sind gerade
in ihrem Fach meist so entsetzlich konservativ, und doch gibt es heute
kaum ein andres Gebiet, das so revolutionär ist wie das militärische.
Zwischen dem glatten Sechspfünder und der siebenpfündigen Haubitze,
womit ich dazumal am Kupfergraben hantierte, und den heutigen gezogenen
Hinterladungsgeschützen, zwischen dem damaligen grobkalibrigen glatten
Gewehr und dem heutigen Fünfmillimeter-Magazinhinterlader scheinen
Jahrhunderte zu liegen; und noch ist kein Abschluß da, noch jeden Tag
wirft die Technik alles eben erst neu Eingeführte rücksichtslos über
den Haufen. Jetzt beseitigt sie sogar den romantischen Pulverdampf und
gibt damit dem Gefecht einen total veränderten, im voraus absolut
unberechenbaren Charakter und Verlauf. Mit solchen Unberechenbarkeiten
aber haben wir inmitten dieser ununterbrochenen Revolutionierung der
technischen Grundlage der Kriegführung immer mehr uns abzufinden.

Noch vor vierzig Jahren ging der wirksame Feuerbereich der
Infanterie bis 300 Schritt, auf welcher Entfernung ein einzelner eine
ganze Bataillonssalve gefahrlos aushalten konnte, vorausgesetzt nur,
die Leute zielten wirklich alle auf ihn. Der Feuerbereich der
Feldartillerie war schon bei 1.500 bis 1.800 Schritte praktisch
unwirksam. Im Deutsch-Französischen Krieg war die wirksame Schußweite
des Gewehrs 600-1.000 Schritt, die des Geschützes höchstens 3.000-4.000
Schritt. Die neuen, noch nicht kriegserprobten kleinkalibngen Gewehre
aber haben eine Tragweite, die sich der des Geschützes nähert, ihre
Geschoßbolzen besitzen eine aufs Vier- bis Sechsfache gesteigerte
Durchschlagskraft; das Magazingewehr gibt einer Sektion heute die
Feuerwirksamkeit, die früher einer Kompanie zukam; die Artillerie kann
sich zwar keiner gleichen Verlängerung der Schußweite rühmen, hat
dagegen ihre Sprenggeschosse mit ganz neuen Explosivstoffen von früher
ungeahnter Wirkung geladen; freilich ist noch nicht ganz sicher, wer
die Wirkung wird aushalten müssen, der Schießende oder der
Angeschossene.

|381| Und mitten in dieser
unaufhörlichen, immer rascher vor sich gehenden Umwälzung des ganzen
Kriegswesens haben wir militärische Autoritäten uns gegenüber, die noch
vor fünf Jahren ihre Truppen in alle die konventionellen
Feierlichkeiten und künstlichen Eiertänze der auf dem Schlachtfeld
längst verstorbnen Lineartaktik des alten Fritz einpaukten und
Reglements heilighielten, wonach man noch immer geschlagen werden
konnte, bloß weil man rechts abmarschiert war und kein Raum da war,
links aufzumarschieren! Autoritäten, die bis auf den heutigen Tag nicht
einmal wagen, die blanken Knöpfe und Metallbeschläge der Ausrüstung des
Soldaten anzutasten – ebensoviel Magnete zur Anziehung der
Fünfmillimeterbolzen -, die die Ulanen mit breiten roten Brustlätzen
und die Kürassiere zwar ohne Küraß – endlich! -, aber im weißen Rock
ins Gewehrfeuer schicken und sich nur schwer, wie schwer, entschlossen
haben, die zwar entsetzlich geschmacklosen, aber dafür um so heiliger
gehaltenen Epauletten lieber auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern
als den Epaulettenträger selbst.

Es will mir scheinen, als läge es weder im Interesse des deutschen
Volkes noch selbst der deutschen Armee, daß dieser konservative
Aberglaube die Herrschaft im Heer behält, inmitten der ihn umwogenden
technischen Revolution. Wir brauchen frischere, kühnere Köpfe, und ich
müßte mich sehr täuschen, wenn es deren nicht genug gäbe unter unsern
fähigsten Offizieren, nicht genug, die sich nicht sehnten nach
Befreiung aus der Routine und Kamaschenwirtschaft, die in den zwanzig
Friedensjahren wieder üppig emporgewuchert. Aber bis diese den Mut und
die Gelegenheit finden, ihre Überzeugung geltend zu machen, solange
müssen wir andern von draußen her in den Riß treten und unser
möglichstes tun, zu beweisen, daß wir beim Militär auch etwas gelernt
haben.

Ich habe weiter oben nachzuweisen versucht, daß die zweijährige
Dienstzeit schon jetzt für alle Waffengattungen durchführbar ist, wenn
man den Leuten das beibringt, was sie im Krieg brauchen können, und sie
mit zeitraubenden traditionellen Antiquitäten verschont. Ich habe aber
gleich von vornherein gesagt, daß es nicht bei den zwei Jahren bleiben
soll. Es handelt sich vielmehr darum, daß der Antrag auf internationale
zweijährige Dienstzeit nur der erste Schritt sein soll zu einer
allmählichen weitren Herabsetzung der Dienstzeit – sage zunächst auf
achtzehn Monate, zwei Sommer und ein Winter, – dann ein Jahr – dann
…? Hier fängt der Zukunftsstaat an, das unverfälschte Milizsystem,
und davon wollen wir weiterreden, wenn die Sache erst wirklich in Gang
gebracht ist.

Und dies, daß die Sache in Gang gebracht werde, ist die Hauptsache. |382|
Sieht man erst einmal der Tatsache ins Auge, daß die Herabsetzung der
Dienstzeit eine Notwendigkeit ist für die ökonomische Existenz aller
Länder und für die Erhaltung des europäischen Friedens, dann ist der
nächste Gewinn die Einsicht, daß das Schwergewicht der militärischen Ausbildung in die Jugenderziehung zu legen ist.

Als ich nach zehnjährigem Exil wieder an den Rhein kam, war ich
angenehm überrascht, auf den Höfen der Dorfschulen überall Barren und
Reck aufgestellt zu sehen. Soweit sehr schön, leider ging’s nicht sehr
weit. Auf gut preußisch wurden die Geräte vorschriftsmäßig angeschafft,
aber mit der Benutzung hat es immer gehapert. Die stand auf einem
andern – oder vielmehr meist auf gar keinem Blatt. Ist es zuviel
verlangt, daß damit endlich einmal Ernst gemacht werde? Daß der
Schuljugend aller Klassen das Frei- und Gerüstturnen systematisch und
gründlich beigebracht werde, solange die Glieder noch elastisch und
gelenk sind, statt daß man, wie jetzt, die zwanzigjährigen Burschen im
Schweiß ihres – und seines eignen – Angesichts vergebens abrackert, um
die steifgearbeiteten Knochen, Muskeln und Bänder wieder locker und
gefügig zu machen? Jeder Arzt wird euch sagen, daß die Teilung der
Arbeit jeden ihr unterworfenen Menschen verkrüppelt, ganze Muskelreihen
auf Kosten von andern entwickelt, und daß dies in jedem einzelnen
Arbeitszweige verschieden wirkt, jede Arbeit ihre eigne Verkrüppelung
erzeugt. Ist es da nicht Wahnsinn, die Leute erst verkrüppeln zu lassen
und sie dann im Militär nachträglich wieder gerad‘ und beweglich zu
machen? Gehört denn ein für den amtlichen Horizont unerreichbarer Grad
von Einsicht dazu, daß man dreimal bessere Soldaten erhält, wenn man
dieser Verkrüppelung in Volksschule und Fortbildungsschule rechtzeitig
vorbeugt?

Das ist aber nur der Anfang. Den Jungen kann auf der Schule die
Bildung und Bewegung militärisch geschlossener Trupps mit Leichtigkeit
gelehrt werden. Der Schuljunge steht und geht von Natur gerade,
namentlich wenn er Turnunterricht hat; wie unsere Rekruten stehn und
wie schwer es ist, manchem das Geradestehn und Geradegehn beizubringen,
das hat jeder von uns während seiner Dienstzeit gesehn. Die Bewegungen
im Zug und in der Kompanie lassen sich in jeder Schule einüben, und mit
einer in der Armee unbekannten Leichtigkeit. Was dem Rekruten eine
verhaßte, oft fast unausführbare Schwierigkeit, das ist für den
Schuljungen ein Spiel und eine Erheiterung. Die Fühlung und Richtung im
Frontmarsch und Schwenken, die bei erwachsenen Rekruten so schwer zu
erreichen sind, werden von Schuljungen spielend erlernt, sobald das
Exerzieren systematisch mit ihnen betrieben wird. Wird ein guter Teil
des Sommers zu |383| Märschen und Übungen im
Terrain verwandt, so wird Körper und Geist der Jungen nicht weniger
dabei gewinnen als der Militärfiskus, der ganze Monate Dienstzeit damit
erspart. Daß solche militärische Spaziergänge sich ganz besonders dazu
eignen, Aufgaben des Felddienstes von den Schülern lösen zu lassen, und
daß dies in hohem Grade geeignet ist, die Intelligenz der Schüler zu
entwickeln und sie zu befähigen, eine speziell militärische Ausbildung
in relativ kurzer Zeit sich anzueignen, dafür hat mein alter Freund
Beust, selbst ehemaliger preußischer Offizier, in seiner Schule in
Zürich den praktischen Beweis geliefert. Bei dem heutigen komplizierten
Stand des Kriegswesens ist ohne militärische Vorbildung der Jugend an
einen Übergang zum Milizsystem gar nicht zu denken, und gerade auf
diesem Gebiete sind die erfolgreichen Versuche von Beust von der
höchsten Bedeutung.

Und nun erlaube man mir, eine ganz spezifisch preußische Saite
anzuschlagen. Die Lebensfrage des preußischen Staates ist: Was soll aus
dem ausgedienten Unteroffizier werden? Bisher hat man ihn verwandt zum
Gendarmen, zum Grenzwächter, zum Portier, zum Schreiber, zum
Zivilbeamten jeder nur möglichen Art; es gibt kein noch so armseliges
Loch in der preußischen Bürokratie, wohinein man nicht
zivilversorgungsberechtigte Unteroffiziere gesteckt. Nun gut: Ihr habt
euch abgearbeitet bis aufs Blut, Unterkommen zu finden für die
Unteroffiziere; ihr habt darauf bestanden, sie dahin zu stecken, wohin
sie nicht taugten, sie zu Dingen zu verwenden, wovon sie nichts
verstanden; sollte es nicht an der Zeit sein, sie endlich einmal in dem
Fach unterzubringen, wovon sie etwas verstehn und wo sie etwas leisten
können? Schulmeister sollen sie werden, aber nicht Lesen, Schreiben und
Rechnen, sondern Turnen und Exerzieren sollen sie lehren, das wird
ihnen und den Jungen guttun. Und wenn die Unteroffiziere erst aus der
Heimlichkeit der Kaserne und Militärgerichtsbarkeit ans Tageslicht des
Schulhofes und des bürgerlichen Strafprozesses versetzt sind, dann,
wette ich, bringt unsere rebellische Schuljugend auch dem ärgsten
ehemaligen Soldatenschinder Mores bei.

IV

|384| Wir behalten uns vor,
weiterhin die Frage zu untersuchen, ob ein solcher Vorschlag auf
allgemeine, gleichmäßige und stufenweise Herabsetzung der Dienstzeit
durch internationalen Vertrag Aussicht auf Annahme hat. Wir wollen
einstweilen von der Voraussetzung ausgehn, er sei angenommen worden.
Wird er dann vom Papier in die Wirklichkeit übersetzt, wird er von
allen Seiten ehrlich durchgeführt werden?

Im ganzen und großen sicher. Erstens wird sich eine irgendwie der
Mühe werte Umgehung nicht verheimlichen lassen. Zweitens aber werden
schon die Bevölkerungen selbst für die Ausführung sorgen. Kein Mensch
bleibt freiwillig in der Kaserne, wenn er über die gesetzliche Zeit
dort behalten wird.

Was die einzelnen Länder angeht, so werden Österreich und Italien
sowie die Staaten zweiten und dritten Ranges, die die allgemeine
Wehrpflicht eingeführt, einen solchen Vertrag als eine befreiende Tat
begrüßen und mit Vergnügen buchstäblich einhalten. Über Rußland werden
wir im nächsten Abschnitt sprechen. Wie aber steht es mit Frankreich?
Und Frankreich ist hier unbedingt das entscheidende Land.

Hat Frankreich den Vertrag einmal unterzeichnet und ratifiziert,
dann ist kein Zweifel, daß es ihn im ganzen und großen wird halten
müssen. Wir wollen aber zugeben, daß die in den besitzenden Klassen und
in dem noch nicht sozialistischen Teil der Arbeiterklasse bestehende
Revancheströmung momentan die Oberhand bekommen und direkte oder auf
Wortklauberei begründete Überschreitungen der Vertragsgrenzen
herbeiführen kann. Solche Überschreitungen können aber nie von
Bedeutung sein, denn sonst würde man in Paris vorziehn, den Vertrag zu
kündigen. Bei solchen kleinen Übervorteilungen aber ist Deutschland in
der glücklichen Lage, großmütig ein Auge zudrücken zu können. Trotz
aller sehr anerkennenswerten Anstrengungen Frankreichs, eine
Wiederholung der Niederlagen |385| von 1870
unmöglich zu machen, ist ihm Deutschland noch um weit mehr voraus, als
sich auf den ersten Blick zeigt. Erstens ist da der mit jedem Jahr
wachsende Überschuß der Bevölkerung Deutschlands, der jetzt schon über
zwölf Millionen beträgt. Zweitens der Umstand, daß in Preußen das
gegenwärtige Militärsystem schon seit über siebzig Jahren besteht, daß
es bei der Bevölkerung sich eingelebt hat, daß es bei einer langen
Reihe von Mobilmachungen in allen Details erprobt worden, daß alle
dabei vorkommenden Schwierigkeiten und die Art ihrer Überwindung
praktisch durchgemacht und bekannt sind – Vorteile, die auch den
übrigen deutschen Heereskörpem zugute kommen. In Frankreich dagegen muß
die erste allgemeine Mobilmachung noch probiert werden, und das bei
einer für diesen Zweck viel verwickelteren Organisation. Drittens aber
ist in Frankreich die undemokratische Einrichtung der
Einjährig-Freiwilligen auf unüberwindliche Hindernisse gestoßen; die
dreijährigen Soldaten haben die einjährigen Privilegierten einfach aus
der Armee herausschikaniert. Dies beweist, wie tief das öffentliche
politische Bewußtsein und die von ihm geduldeten politischen
Institutionen Deutschlands unter denen Frankreichs stehn. Was aber
politisch ein Mangel, ist in diesem Fall militärisch ein Vorteil. Es
ist außer allem Zweifel, daß kein Land, im Verhältnis zur Bevölkerung,
eine solche Menge junger Leute durch seine Mittel- und Hochschulen
schickt, wie gerade Deutschland, und da bietet das Institut der
Einjährig-Freiwilligen, undemokratisch und politisch verwerflich wie es
ist, der Heeresleitung ein vortreffliches Mittel, die Mehrzahl dieser
in allgemeiner Hinsicht schon genügend vorgebildeten jungen Leute auch
militärisch zum Offiziersdienst auszubilden. Der Feldzug von 1866
brachte dies zuerst zur Anschauung, seitdem aber und besonders seit
1871 ist diese Seite der kriegerischen Stärke Deutschlands ganz
besonders, fast bis zum Exzeß gepflegt worden. Und wenn auch unter den
deutschen Reserveoffizieren so viele neuerdings ihr möglichstes getan
haben, ihren Stand lächerlich zu machen, so ist doch kein Zweifel, daß
sie, in der Masse genommen, ihren französischen Berufsgenossen, Mann
gegen Mann, in militärischer Beziehung überlegen sind und, was die
Hauptsache, daß Deutschland unter seinen Reservisten und
Landwehrmännern einen weit höheren Prozentsatz von zum Offiziersdienst
qualifizierten Leuten besitzt als irgendein andres Land.

Dieser eigentümliche Reichtum an Offizieren befähigt Deutschland, im
Augenblick der Mobilmachung eine unverhältnismäßig größere Zahl von
bereits im Frieden vorbereiteten Neuformationen aufzustellen als
irgendein andres Land. Nach der – soviel ich weiß – sowohl im Reichstag
wie in der |386| Militärkommission
unwidersprochen gebliebenen Behauptung Richters („Freisinnige Zeitung“,
26. November 1892), wird jedes deutsche Infanterieregiment ein moblies
Reserveregiment, zwei Landwehrbataillone und zwei Ersatzbataillone für
den Krieg zu stellen imstande sein. Also je drei Bataillone liefern
zehn, oder die 519 Bataillone der 173 Friedensregimenter verwandeln
sich im Krieg in 1.730 Bataillone, wobei noch Jäger und Schützen
ungerechnet sind. Und das in einer so kurzen Zeit, wie kein andres Land
dies nur annähernd erreichen kann.

Die französischen Reserveoffiziere, wie mir einer von ihnen zugab,
sind weit weniger zahlreich; sie sollen aber ausreichen, um die Cadres
der nach amtlichen Veröffentlichungen vorgesehenen Neuformationen zu
füllen. Dazu gestand der Mann, daß die Hälfte dieser Offiziere nicht
viel tauge. Die fraglichen Neuformationen reichen aber nicht entfernt
an das, was nach dem Gesagten Deutschland zu leisten imstande ist. Und
dann sind die Offiziere, die Frankreich stellen kann, sämtlich
verwendet, während Deutschland deren noch immer übrig behält.

In allen früheren Kriegen fehlten nach ein paar Monaten Feldzug die
Offiziere. Bei allen andern Ländern wird das auch jetzt noch der Fall
sein. Deutschland allein ist an Offizieren unerschöpflich. Und da
sollte man es den Franzosen nicht durch die Finger sehn können, wenn
sie ihre Leute hier und da zwei bis drei Wochen über die Vertragszeit
exerzieren lassen?

V

|387| Wir kommen jetzt auf Rußland.
Und da ist es, grade herausgesagt, ziemlich gleichgültig, nicht nur, ob
Rußland einen Vertrag zur allmählichen gleichmäßigen Herabsetzung der
Dienstzeit einhält, sondern selbst, ob es ihn überhaupt eingeht. Wir
können Rußland in Beziehung auf unseren Fragepunkt in der Tat fast ganz
außer acht lassen, und zwar aus folgenden Gründen.

Das russische Reich enthält zwar über hundert Millionen Menschen,
also reichlich doppelt soviel wie das Deutsche Reich, ist aber weit
entfernt davon, eine annähernd der deutschen gleichkommende
militärische Angriffskraft zu besitzen. Die fünfzig Millionen in
Deutschland sind zusammengedrängt auf 540.000 Quadratkilometer; die
höchstens 90 bis 100 Millionen in Rußland, die militärisch für uns in
Betracht kommen, sind zerstreut über, mäßig berechnet, 31/2
Millionen Quadratkilometer; der Vorteil, der den Deutschen aus dieser
weit großem Bevölkerungsdichtigkeit erwächst, wird noch bedeutend
gesteigert durch das unvergleichlich bessere Eisenbahnnetz. Trotzdem
bleibt die Tatsache, daß hundert Millionen auf die Dauer mehr Soldaten
stellen können als fünfzig. Es wird, wie die Dinge liegen, längere Zeit
kosten, bis sie kommen; aber kommen müssen sie schließlich doch. Was
dann?

Zu einer Armee gehören nicht nur Rekruten, sondern auch Offiziere.
Und damit sieht es in Rußland schofel aus. In Rußland kommen für den
Offiziersrang nur der Adel und die Bürgerschaft der Städte in Betracht;
der Adel ist verhältnismäßig sehr wenig zahlreich, der Städte sind
wenige, höchstens der zehnte Mann wohnt in einer Stadt, und von diesen
Städten verdienen die wenigsten den Namen; die Zahl der Mittelschulen
und der sie besuchenden Schüler ist äußerst gering; wo sollen da die
Offiziere herkommen für alle die Mannschaften?

|388| Eines schickt sich nicht für
alle. Das System der allgemeinen Wehrpflicht setzt einen gewissen Grad
ökonomischer und intellektueller Entwickelung voraus; wo diese fehlt,
richtet das System mehr Schaden als Nutzen an. Und dies ist offenbar
der Fall in Rußland.

Erstens braucht es überhaupt eine verhältnismäßig lange Zeit, um aus
dem russischen Durchschnittsrekruten einen ausgebildeten Soldaten zu
machen. Der russische Soldat ist von unbezweifelter großer Tapferkeit.
Solange die taktische Entscheidung in dem Angriff geschlossener
Infanteriemassen lag, war er in seinem Element. Seine ganze
Lebenserfahrung hatte ihn angewiesen auf den Anschluß an seine
Kameraden. Auf dem Dorf die noch halbkommunistische Gemeinde, in der
Stadt die genossenschaftliche Arbeit des Artels; überall die krugovaja
poruka, die gegenseitige Haftbarkeit der Genossen; kurz ein
Gesellschaftszustand, der handgreiflich hinweist einerseits auf den
Zusammenhalt, in dem alles Heil liegt, andrerseits auf die hilflose
Verlassenheit des vereinzelten, auf die eigene Initiative angewiesenen
Individuums. Dieser Charakter bleibt dem Russen auch im Militär; die
Bataillonsmassen sind fast nicht zu sprengen, je größer die Gefahr,
desto fester ballen sich die Klumpen zusammen. Aber dieser Instinkt des
Zusammenschließens, der noch zur Zeit der napoleonischen Feldzüge von
unschätzbarem Werte war und manche weniger brauchbare Seite des
russischen Soldaten aufwog – er ist heute eine entschiedne Gefahr.
Heute sind die geschlossenen Massen aus der Gefechtslinie verschwunden,
heute handelt es sich um den Zusammenhalt aufgelöster Schützenschwärme,
wo Truppen der verschiedensten Verbände durcheinander geworfen werden
und das Kommando oft und rasch genug an Offiziere übergeht, die den
meisten Mannschaften total fremd sind; heute soll jeder Soldat imstande
sein, selbständig das zu tun, was im Moment getan werden muß, und doch
den Zusammenhalt mit dem Ganzen nicht verlieren. Das ist ein
Zusammenhalt, der nicht durch den primitiven Herdeninstinkt des Russen,
sondern nur durch Ausbildung des Verstandes bei jedem einzelnen
ermöglicht werden kann, und dazu finden wir die Vorbedingungen nur auf
einer Kulturstufe von höherer „individualistischer“ Entwicklung, wie
sie bei den kapitalistischen Nationen des Westens besteht. Der
kleinkalibrige Magazinhinterlader und das rauchschwache Pulver haben
die Eigenschaft, die bisher die größte Stärke der russischen Armee war,
in eine ihrer größten Schwächen verwandelt. Es wird also heutzutage
noch längere Zeit erfordern als früher, bis der russische Rekrut ein
gefechtsbrauchbarer Soldat wird, und den Soldaten des Westens tut er’s
überhaupt nicht mehr gleich.

Zweitens aber: Woher sollen die Offiziere kommen, um alle diese |389|
Massen im Krieg in Neuformationen einzurahmen? Wenn Frankreich schon
Schwierigkeit hat, die hinreichende Zahl von Offizieren zu finden, wie
wird es erst Rußland gehn? Rußland, wo die gebildete Bevölkerung, aus
der allein tüchtige Offiziere genommen werden können, einen so
unverhältnismäßig geringen Prozentsatz der Gesamtzahl ausmacht, und wo
dennoch der Soldat, selbst der ausgebildete, einen großem Prozentsatz
von Offizieren braucht als in andern Armeen?

Und drittens: Bei dem in Rußland notorischen allgemeinen System des
Unterschleifs und Diebstahls von selten der Beamten und oft genug auch
der Offiziere, wie soll da eine Mobilmachung verlaufen? Bei allen
bisherigen Kriegen Rußlands stellte sich sofort heraus, daß selbst ein
Teil der Friedensarmee und ihrer Ausrüstungsbestände nur auf dem Papier
existierte. Wie soll es erst gehn, wenn die beurlaubten Reserveleute
und die Opoltschenie (Landwehr) unters Gewehr treten und mit Uniform,
Bewaffnung, Munition versehn werden sollen? Wenn bei einer Mobilmachung
nicht alles klappt, nicht alles zur rechten Zeit und am rechten Ort
vorhanden ist, dann ist die Konfusion vollständig. Wie soll aber alles
klappen, wenn alles durch die Hände diebischer und bestechlicher
russischer Tschinowniks geht? Die russische Mobilmachung – das wird ein
Schauspiel für Götter.

Eins mit dem andern: Wir können den Russen schon aus rein
militärischen Gründen erlauben, soviel Soldaten einzustellen und sie
solange bei der Fahne zu behalten, wie es dem Zaren beliebt. Außer den
Truppen, die jetzt schon unterm Gewehr stehn, wird er schwerlich viel
mehr auf die Beine bringen, und auch dies schwerlich zur rechten Zeit.
Das Experiment mit der allgemeinen Wehrpflicht kann Rußland teuer zu
stehn kommen.

Und dann, wenn’s zum Krieg kommt, dann steht die russische Armee an
der ganzen Grenze von Kowno bis Kaminiec auf ihrem eigenen Gebiet in
Feindesland, mitten unter Polen und Juden, denn auch die Juden hat die
zarische Regierung sich zu Todfeinden gemacht. Ein paar für Rußland
verlorne Schlachten, und das Kampfesfeld wird von der Weichsel an die
Düna und den Dnepr verlegt; im Rücken der deutschen Armee, unter ihrem
Schütze, bildet sich ein Heer polnischer Bundesgenossen; und es wird
eine gerechte Strafe für Preußen sein, wenn es dann zu seiner eignen
Sicherheit ein starkes Polen wiederherstellen muß.

Soweit haben wir nur die direkt militärischen Verhältnisse
betrachtet und gefunden, daß für den vorliegenden Fragepunkt Rußland
außer acht gelassen werden kann. Noch mehr aber wird sich dies zeigen,
sobald wir einen Blick werfen auf die allgemeine ökonomische und
speziell die finanzielle Lage Rußlands.

VI

|390| Die innere Lage Rußlands ist
augenblicklich eine fast verzweifelte. Die Bauernemanzipation von 1861
und die mit ihr teils als Ursache, teils als Wirkung zusammenhängende
Entwicklung der kapitalistischen Großindustrie haben dies stabilste
aller Länder, dies europäische China, in eine ökonomische und
soziale Revolution geworfen, die nun unaufhaltsam ihren Gang geht; und
dieser Gang ist einstweilen ein vorwiegend verwüstender.

Der Adel erhielt bei der Emanzipation Entschädigung in
Staatsschuldscheinen, die er möglichst rasch verjubelte. Als dies
vollbracht, eröffneten ihm die neuen Eisenbahnen einen Markt für das
Holz seiner Wälder; er ließ das Holz schlagen und verkaufen und lebte
abermals herrlich und in Freuden, solange der Erlös reichte. Die
Bewirtschaftung der Güter, unter den neugeschaffenen Bedingungen und
mit freien Arbeitern, blieb meist sehr unbefriedigend; was Wunder, daß
der russische grundbesitzende Adel über und über verschuldet, wo nicht
geradezu bankrott ist und daß der Ertrag seiner Güter an Produkten eher
ab- als zunimmt.

Der Bauer erhielt weniger und meist schlechteres Land, als er bisher
besessen; die Gemeindeweide- und Waldnutzung wurde ihm entzogen und
damit die Grundlage der Viehhaltung; die Steuern wurden bedeutend
erhöht und sollten nun von ihm selbst überall in Geld gezahlt werden;
dazu kamen die Ratenzahlungen – ebenfalls in Geld – für Verzinsung und
Amortisation des vom Staat vorgeschossenen Loskaufsgeldes (wykup);
kurz, zu aller Verschlechterung seiner allgemeinen ökonomischen Lage
kam die plötzliche Zwangsversetzung aus der Naturalwirtschaft in die
Geldwirtschaft, die allein hinreicht, die Bauerschaft eines Landes zu
ruinieren. Die Folge davon war die üppige Entwicklung der Ausbeutung
des Bauern durch die ländlichen Geldbesitzer, reichere Bauern und
Schnapskneipenwirte, mirojedy (wörtlich Gemeindefresser) und kulaki
(Zinswucherer), Und als ob alles das nicht genüge, kam dazu die neue
große Industrie und ruinierte die Natural- |391|
wirtschaft der Bauern bis auf den letzten Rest. Nicht nur untergrub
ihre Konkurrenz die häusliche industrielle Produktion des Bauern für
den eignen Bedarf, sie nahm auch seiner für den Verkauf bestimmten
Handarbeit den Markt weg oder stellte sie, im günstigsten Fall, unter
die Botmäßigkeit des kapitalistischen „Verlegers“ oder, was noch
schlimmer, seines Mittelsmanns. Der russische Bauer mit seinem
waldursprünglichen Ackerbau und „einer altkommunistischen
Gemeindeverfassung wurde so plötzlich in Kollision gebracht mit der
entwickeltsten Form der modernen großen Industrie, die sich einen
inländischen Markt gewaltsam schaffen mußte; eine Lage, worin er
rettungslos zugrunde gehn mußte. Aber der Bauer – das war beinahe neun
Zehntel der Bevölkerung Rußlands, und der Ruin des Bauern war
gleichbedeutend mit dem – wenigstens zeitweiligen – Ruin Rußlands.(1)

Nachdem dieser Prozeß der gesellschaftlichen Umwälzung an die
zwanzig Jahre gedauert, stellten sich noch andre Resultate heraus. Die
rücksichtslose Entwaldung vernichtete die Vorratskammern der
Bodenfeuchtigkeit, das Regen- und Schneewasser floß, ohne aufgesogen zu
werden, rasch durch die Bäche und Ströme ab, starke Überschwemmungen
erzeugend;

aber im Sommer wurden die Flüsse seicht, und der Boden vertrocknete.
In vielen der fruchtbarsten Gegenden Rußlands soll das Niveau der
Bodenfeuchtigkeit um einen vollen Meter gefallen sein, so daß die
Wurzeln der Getreidehalme es nicht mehr erreichen und verdorren. So daß
nicht nur die Menschen ruiniert sind, sondern in vielen Gegenden auch
der Boden selbst auf wenigstens ein Menschenalter hinaus.

Diesen bisher chronisch verlaufenden Prozeß des Ruins hat die
Hungersnot von 1891 akut und damit vor aller Welt sichtbar gemacht. Und
deshalb kommt Rußland seit 1891 nicht aus der Hungersnot heraus. Das
böse Jahr hat das letzte und wichtigste Produktionsmittel der Bauern –
das Vieh – großenteils ruiniert und ihre Verschuldung auf einen
Höhepunkt getrieben, der ihre letzte Widerstandskraft brechen muß.

In einer solchen Lage könnte ein Land höchstens einen
Verzweiflungskrieg unternehmen. Aber auch dazu fehlen die Mittel. In
Rußland lebt der Adel von Schulden, lebt jetzt auch der Bauer von
Schulden, und von Schulden lebt vor allen der Staat. Wieviel Geld der
russische Staat nach |392| außen schuldig
ist, weiß man: über vier Milliarden Mark. Wieviel er im Innern schuldig
ist, weiß kein Mensch; erstens, weil man weder die Summe der
aufgenommenen Anleihen noch die des in Zirkulation befindlichen
Papiergeldes kennt, und zweitens, weil dies Papiergeld jeden Tag seinen
Wert wechselt. Soviel aber ist sicher: Der Kredit Rußlands im Ausland
ist erschöpft. Die vier Milliarden Mark russischer Staatsschuldscheine
haben den westeuropäischen Geldmarkt über und über gesättigt. England
hat sich längst, Deutschland hat sich neuerdings des größten Teils
seiner „Russen“ entledigt. Holland und Frankreich haben sich durch den
Ankauf derselben ebenfalls den Magen verdorben, wie sich bei der
letzten russischen Anleihe in Paris zeigte; von den 500 Millionen
Franken konnten nur 300 untergebracht werden, 200 Millionen mußte der
russische Finanzminister den zeichnenden und überzeichnenden Bankiers
wieder abnehmen. Der Beweis ist damit geliefert, daß eine neue
russische Anleihe selbst in Frankreich für die nächste Zeit absolut
keine Aussichten hat.

Das ist die Lage des Landes, das uns angeblich mit unmittelbarer
Kriegsgefahr bedroht und das doch sogar außerstande ist, einen
Verzweiflungskrieg vom Zaun zu brechen, falls wir nicht selbst dumm
genug sind, das Geld dazu ihm in den Rachen zu werfen.

Man begreift nicht die Unwissenheit der französischen Regierung und der sie beherrschenden französischen bürgerlichen
öffentlichen Meinung. Nicht Frankreich bedarf Rußlands – Rußland bedarf
vielmehr Frankreichs. Ohne Frankreich wäre der Zar mit seiner Politik
isoliert in Europa, machtlos müßte er im Westen und im Balkan alles
gehn lassen, wie es geht. Mit etwas Verstand könnte Frankreich aus
Rußland alles herausschlagen, was es wollte. Aber statt dessen kriecht
das offizielle Frankreich auf dem Bauch vor dem Zaren.

Der Weizenexport Rußlands ist bereits ruiniert durch die wohlfeilere
amerikanische Konkurrenz. Bleibt als Hauptausfuhrartikel nur der
Roggen, und der geht fast ausnahmslos nach Deutschland. Sobald Deutschland Weißbrot ißt statt Schwarzbrot, ist das jetzige offizielle zarisch-großbürgerliche Rußland bankrott.

VII

|393| Wir haben nun unsre benachbarten friedlichen Feinde hinreichend kritisiert. Wie sieht es aber bei uns zu Hause aus?

Und da müssen wir geradezu sagen: Eine stufenweise Herabsetzung der
Dienstzeit kann für die Armee nur dann von Vorteil sein, wenn ein für
allemal total unmöglich gemacht wird die Soldatenschinderei, die in den
letzten Jahren eingerissen und in der Armee viel mehr zur Regel
geworden ist, als man zugeben will.

Diese Soldatenschinderei ist das Gegenstück des Kamaschendienstes
und Paradedrills; beide breiten sich von jeher in der preußischen Armee
aus, sobald diese eine Zeitlang Friedensarmee wird, und von den Preußen
geht sie über auch zu den Sachsen, Bayern, etc. Sie ist ein Erbstück
aus der echten „altpreußischen“ Zeit, wo der Soldat entweder
angeworbner Lumpazius oder leibeigner Bauernsohn war und daher jede
Mißhandlung und Entehrung von seinem junkerlichen Offizier ohne Murren
hinnehmen mußte. Und namentlich der heruntergekommene Hungerleider- und
Schmarotzeradel, der östlich der Elbe gar nicht schwach vertreten,
stellt noch heute sein Kontingent der schlimmsten Soldatenschinder und
wird in dieser Beziehung nur erreicht von den protzigen
Bourgeoissöhnchen, die den Junker spielen möchten.

Ganz ausgestorben ist die Schurigelei des Soldaten nie in der
preußischen Armee. Aber sie war früher seltner, gelinder und
stellenweis humoristischer. Seitdem aber einerseits dem Soldaten immer
mehr und mehr Dinge beigebracht werden mußten, während man andrerseits
nicht daran dachte, den unnützen Plunder überlebter und sinnlos
gewordener taktischer Übungen abzuschaffen, seitdem erhielt der
Unteroffizier mehr und mehr stillschweigende Vollmacht zu jeder ihm
passend erscheinenden Ausbildungsmethode und wurde andrerseits zur
Anwendung gewaltsamer Mittel indirekt gezwungen durch das Gebot, in
beschränkter Zeit seiner Korporalschaft dies |394|
oder jenes genügend einzupauken. Dazu dann das Beschwerderecht des
Soldaten, das der reine Hohn ist – kein Wunder, daß die beliebte
altpreußische Methode wieder in lustigen Schwang kam, da wo die
Soldaten es sich gefallen ließen. Denn ich bin sicher, daß Regimenter
des Westens oder mit starkem Beisatz großstädtischer Leute weit weniger
Soldatenschinderei aufweisen, als die, [die] vorzugsweise aus
ostelbischen Landleuten zusammengesetzt sind.

Dazu gab es früher ein – wenigstens tatsächliches – Gegengewicht.
Mit dem glattläufigen Vorderlader war es ein leichtes, beim Manöver
einen Kiesel auf die Platzpatrone in den Lauf rollen zu lassen, und da
kam es oft genug vor, daß verhaßte Vorgesetzte beim Manöver aus
Versehen erschossen wurden. Manchmal ging’s auch fehl: ich kannte einen
jungen Kölner, der 1849 auf diese Weise durch ein Geschoß seinen Tod
fand, das seinem Hauptmann zugedacht war. Jetzt, mit dem
kleinkalibrigen Hinterlader, geht das nicht mehr so leicht und so
unbemerkt; dafür gibt uns die Statistik der Selbstmorde in der Armee
den Barometerstand der Soldatenschinderei ziemlich genau an. Kommt aber
im „Ernstfall“ die scharfe Patrone in Verwendung, dann fragt es sich
allerdings, ob da die alte Praxis nicht wieder Anhänger findet, wie das
in den letzten Kriegen hie und da der Fall gewesen sein soll; zum Sieg
würde das allerdings nicht |In der Broschüre: recht| sehr beitragen.

Die Berichte englischer Offiziere stimmen ein im Lob des ausnehmend
guten Verhältnisses zwischen Vorgesetzten und Soldaten der 1891 in der
Champagne manövrierenden französischen Armee. In dieser Armee wären
Dinge, wie sie bei uns so oft aus den Kasernen in die Presse dringen,
geradezu unmöglich. Schon vor der grollen Revolution scheiterte der
Versuch, die preußischen Stockprügel einzuführen. Zur schlimmsten Zeit
der algierischen Feldzüge und des zweiten Kaisertums hätte kein
Vorgesetzter gewagt, dem französischen Soldaten den zehnten Teil dessen
zu bieten, was vor unser aller Augen dem deutschen geboten worden ist.
Und heute, nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, möchte ich den
französischen Unteroffizier sehn, der sich unterfinge, den Soldaten, zu
befehlen, einander zu ohrfeigen oder ins Gesicht zu spucken. Welche
Verachtung müssen aber nicht die französischen Soldaten für ihre
künftigen Gegner empfinden, wenn sie hören und lesen, was diese sich
bieten lassen, ohne zu zucken. Und daß die Leute in jeder französischen
Kaserne das lesen und hören, dafür wird gesorgt.

Bei den Franzosen herrscht in der Armee der Geist und das Verhältnis
zwischen Offizier, Unteroffizier und Soldat, das in Preußen 1813 bis
1815 herrschte und unsere Soldaten zweimal nach Paris führte. Bei uns
dagegen nähert das alles sich mehr und mehr dem Stand von 1806, wo der
Soldat auch als kaum ein Mensch angesehn, geprügelt und geschunden
wurde und wo zwischem ihm und dem Offizier eine unüberschreitbare Kluft
lag – und dieser Zustand führte die Armee nach Jena und in die
französische Gefangenschaft.

Es wird so viel geredet vom entscheidenden Wert der moralischen
Faktoren im Krieg. Und was anders tut man im Frieden, als sie fast
systematisch vernichten?

VIII

|396| Bisher haben wir
vorausgesetzt, der Vorschlag zur allmählichen gleichmäßigen
Herabsetzung der Dienstzeit mit schließlichem Übergang zum Milizsystem
sei allgemein angenommen worden. Die Frage ist aber vor allem: wird er
angenommen?

Nehmen wir an, Deutschland stellt den Vorschlag zunächst an
Österreich, Italien und Frankreich. Österreich wird eine
Maximaldienstzeit von zwei Jahren mit Freuden annehmen und
wahrscheinlich in seiner eignen Praxis noch weiter herabgehn. In der
österreichischen Armee spricht man sich, scheint es, weit offener aus
als in der deutschen über die günstigen Erfolge mit der kurzen
Dienstzeit eines Teils der Truppen. Viele Offiziere dort erklären
geradezu die Landwehr, die nur ein paar Monate dient, für eine bessere
Truppe als die Linie; sie haben jedenfalls das für sich, daß ein
Landwehrbataillon, wie mir versichert wird, in 24 Stunden mobil macht,
während ein Linienbataillon mehrere Tage dazu braucht. Natürlich: bei
der Linie fürchtet man sich, den altösterreichischen breitspurigen
Schlendrian anzutasten, bei der Landwehr, wo alle Einrichtungen neu
geschaffen, hat man dagegen den Mut gehabt, ihn nicht einzuführen.
Jedenfalls seufzt in Osterreich Volk wie Regierung nach Erleichterung
der Militärlast, und die ist hier, gerade auf Grund der gemachten
eignen Erfahrungen, am ehesten zu haben durch Herabsetzung der
Dienstzeit.

Italien wird ebenfalls mit beiden Händen zugreifen. Es erliegt unter
dem Druck des Kriegsbudgets, und zwar in solchem Grad, daß hier Abhilfe
geschafft werden muß, und das bald. Auch hier ist Verkürzung der
Maximaldienstzeit der nächste und einfachste Weg. Man kann also sagen:
Entweder geht der Dreibund in die Brüche, oder er muß zu einem Mittel
greifen, das mehr oder weniger auf unsern Vorschlag hinausläuft.

Wenn aber Deutschland, gestützt auf die Annahme durch Österreich und
Italien, diesen Vorschlag der französischen Regierung unterbreitet, so |397|
kommt diese in eine sehr fatale Stellung. Nimmt sie ihn an, so
verschlechtert sie ihre relative militärische Lage absolut nicht. Im
Gegenteil, sie erhielte Gelegenheit, diese relative Lage zu verbessern.
Es ist in mancher Beziehung ein Nachteil für Frankreich, daß die
allgemeine Wehrpflicht dort erst seit 20 Jahren eingeführt ist. Aber
dieser Nachteil schließt den Vorteil ein, daß alles noch neu ist, daß
der alte Zopf von Anno Tobak erst neuerdings abgeschnitten worden, daß
weitere Verbesserungen leicht einzuführen sind, ohne auf den zähen
Widerstand eingerosteter Vorurteile zu stoßen. Alle Armeen sind
ungemein bildungsfähig nach großen Niederlagen. Eine bessere
Ausnutzung der vertragsmäßigen Dienstzeit wäre daher in Frankreich weit
leichter durchzuführen als anderswo, und da auch das Schulwesen, ganz
wie die Armee, sich im Zustand der Revolutionierung befindet, so wird
auch die allgemein körperliche und speziell militärische Vorbildung der
Jugend sich dort weit rascher und leichter ins Werk setzen lassen als
anderswo. Das würde aber bedeuten, daß die militärische Machtstellung
Frankreichs gegenüber Deutschland sich verstärkt. Trotz alledem ist es
möglich und selbst wahrscheinlich genug, daß die chauvinistische
Strömung – der französische Chauvinismus ist genau so dumm wie der
deutsche – stark genug wird, jede Regierung zu stürzen, die so etwas
annimmt, namentlich wenn es von Deutschland kommt. Nehmen wir also an:
Frankreich lehnt ab. Was dann?

Dann ist Deutschland durch die bloße Tatsache, daß es diesen
Vorschlag gemacht, in enormen Vorteil gesetzt. Wir dürfen nicht
vergessen: Die siebenundzwanzig Jahre Bismarckwirtschaft haben
Deutschland – nicht mit Unrecht – im ganzen Ausland verhaßt gemacht.
Weder die Annexion der nordschleswigschen Dänen noch die
Nichteinhaltung und schließliche Eskamotage des auf sie bezüglichen
Prager Friedensartikels, noch die Annexion Elsaß-Lothringens, noch die
kleinlichen Maßregeln gegen die preußischen Polen hatten mit der
Herstellung der „nationalen Einheit“ das geringste zu tun. Bismarck hat
es verstanden, Deutschland in den Ruf der Ländergier zu bringen; der
deutsche chauvinistische Bürger, der die Deutschösterreicher hinauswarf
und dennoch Deutschland noch immer „von der Etsch bis an die
Memel“ über alles brüderlich zusammenhalten will, der dagegen Holland,
Flandern, die Schweiz und die angeblich „deutschen“ Ostseeprovinzen
Rußlands mit dem Deutschen Reich vereinigen möchte – dieser deutsche
Chauvin hat Bismarck redlich geholfen, und mit so herrlichem Erfolg,
daß heute den „biedern Deutschen“ kein Mensch in Europa mehr traut.
Geht, wohin ihr wollt, ihr werdet überall Sympathien mit Frankreich
finden, aber Mißtrauen gegen Deutschland, das man für die Ursache der
gegenwärtigen Kriegsgefahr hält. Dem allem würde ein Ende |398|
gemacht, entschlösse Deutschland sich zur Stellung unsres Antrages. Es
träte als Friedensstifter auf in einer Weise, die keinen Zweifel
zuläßt. Es erklärte sich bereit, voranzugehn im Werk der Abrüstung, wie
dies von Rechts wegen dem Lande zukommt, das das Signal zur Rüstung
gegeben hat. Das Mißtrauen müßte sich in Zutrauen, die Abneigung in
Sympathie verwandeln. Nicht nur die Redensart, der Dreibund sei ein
Friedensbund, würde endlich zur Wahrheit, sondern auch der Dreibund
selbst, der jetzt nur ein Schein ist. Die ganze öffentliche Meinung
Europas und Amerikas träte auf seiten Deutschlands. Und das wäre eine
moralische Eroberung, die selbst alle möglicherweise noch
herauszuspintisierenden militärischen Nachtelle unseres Vorschlags
überreichlich aufwöge.

Frankreich dagegen, das den Abrüstungsvorschlag abgelehnt, käme in
dieselbe ungünstige Verdachtsstellung, wie Deutschland jetzt. Nun sehn
wir alle, würde der europäische Philister sagen – und der ist die
größte Großmacht -, nun sehn wir alle, wer den Frieden will und wer den
Krieg. Und wenn dann vielleicht einmal eine wirklich kriegslustige
Regierung in Frankreich ans Ruder käme, sie stände vor einer Lage, die
ihr bei einigem Verstande den Krieg absolut verböte. Wie sie sich auch
anstellte, vor ganz Europa stände sie da als der Teil, der den Krieg
heraufbeschworen, heraufgezwungen hat. Damit hätte sie nicht nur die
Kleinen, nicht nur England gegen sich gestimmt, sie würde nicht einmal
der Hülfe Rußlands sicher sein, nicht einmal jener traditionellen Hülfe
Rußlands, die darin besteht, daß es seine Bundesgenossen erst
hineinreitet und dann im Stiche läßt.

Vergessen wir nicht: Im nächsten Kriege entscheidet England.
Der Dreibund, im Krieg gegen Rußland und Frankreich, ebensowohl wie
Frankreich, von Rußland getrennt durch feindliches Gebiet, sie alle
sind für die ihnen unentbehrliche starke Korneinfuhr angewiesen auf den
Seeweg. Diesen beherrscht England unbedingt. Stellt es seine Flotte dem
einen Teil zur Verfügung, so wird der andre einfach ausgehungert, die
Kornzufuhr wird abgeschnitten; es ist die Aushungerung von Paris auf
kolossal vergrößertem Maßstab, und der ausgehungerte Teil muß
kapitulieren; so sicher zweimal zwei vier ist.

Nun gut: in diesem Augenblick hat die liberale Strömung in England
Oberwasser, und die englischen Liberalen haben entschieden französische
Sympathien. Dazu ist der alte Gladstone persönlich ein Russenfreund.
Bricht ein europäischer Krieg aus, so bleibt England solange wie
möglich neutral; aber selbst seine „wohlwollende“ Neutralität kann
unter den erwähnten Umständen einer der kriegführenden Parteien von
entscheidender Hülfe sein. Macht Deutschland unsern Vorschlag und wird
er von Frank- |399| reich abgelehnt, so hat
Deutschland nicht nur alle entgegenstehenden englischen Sympathien
überwunden und sich Englands wohlwollende Neutralität gesichert; es hat
außerdem der englischen Regierung so gut wie unmöglich gemacht, im
Krieg den Gegnern Deutschlands sich anzuschließen.

Also zum Schluß:

Entweder nimmt Frankreich den Vorschlag an. Dann ist die
Kriegsgefahr, die aus den stets gesteigerten Rüstungen erwächst,
tatsächlich beseitigt, die Völker kommen zur Ruhe, und Deutschland hat
den Ruhm, dies eingeleitet zu haben.

Oder Frankreich nimmt nicht an. Dann verschlechtert es seine eigne
Stellung in Europa und verbessert Deutschlands Stellung in einem
solchen Grad, daß Deutschland einen Krieg absolut nicht mehr zu
fürchten braucht und sogar ohne alle Gefahr im Verein mit seinen
Bundesgenossen, die dann erst wahrhaft seine Bundesgenossen, auf eigne
Faust zu einer allmählichen Herabsetzung der Dienstzeit und
Vorbereitung zum Milizsystem schreiten kann.

Wird man den Mut haben, den rettenden Schritt zu tun? Oder will man
warten, bis Frankreich, aufgeklärt über die Lage Rußlands, den ersten
Schritt tut und den Ruhm für sich einerntet?


Fußnoten von Friedrich Engels

(1) Ich habe das alles schon vor einem Jahre entwickelt in der „Neuen Zeit“ 1891/92, Nr. 19, Artikel: „Der Sozialismus in Deutschland.“ <=

 

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